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18. Juni 2022

Zufälle nutzen

„Gott würfelt nicht!“ Albert Einstein.

Irrte Einstein?

In der Quantenphysik wimmelt es von Zufällen.

Sie geschehen planlos, ohne erkennbar verborgene Ursachen und ohne mystische Kräfte.

Die meisten mögen keine Zufälle

Sie bergen Risiken.

Deshalb schließen Menschen Versicherungen ab, schlucken Pillen, lassen uns testen und impfen.

Sie möchten die Ungewissheiten möglichst klein halten. Sie hätten es gerne einfach. Und beherrschbar.

Aber die Realität wirbelt und strudelt, wenn sie uns umgibt, ausmacht und durchdringt. Alles Leben wechselwirkt mit anderem Leben. Das Chaos, dessen Teil wir sind, können wir nur in engen Grenzen vorhersagen. Und nur selten, vorübergehend kontrollieren.

Das Grundbedürfnis nach Sicherheit verlangt nach einer überschaubaren Zukunft. Deshalb vermeiden viele Gefahren, die in der Vergangenheit Probleme bereiteten.

Und so rudern wir mit dem Rücken nach vorn in eine Zukunft, während wir zu dem Vergangenen zurückschauen. Wir glauben das zu erahnen, was geschehen wird, aber wir sehen es nicht. Bis, vollkommen überraschend, etwas Unwahrscheinliches geschieht, und wir an einen Felsen stoßen, und unser Boot zu kentern droht.

Zufälle nutzen

Der verzweifelte Versuch, alles verfügbar zu halten, blockiert uns. (Hartmut Rosa 2018).

Leben ist (prinzipiell) unbeherrschbar. Die Realität, die uns umgibt und durchdringt, entwickelt sich dynamisch. Sie ist nur in Grenzen vorhersagbar.

Entfremdung und Verunsicherung nehmen zu. Je mehr man aushält, festklammert oder bekämpft. Dauerstress stumpft die Fähigkeiten ab, zu denken und zu fühlen. Unserer Zivilisation geht der Sinn verloren. Es wird schwieriger, Beziehungen einzugehen, Resonanz wahrzunehmen und mit anderem (gelassen) in Wechselwirkung zu treten. Süchtig nach Sicherheit verlieren wir an Stabilität. Und werden gesellschaftlich oder körperlich störungsanfälliger. Schon einfache Belastungen können uns gefährlich werden, wenn sie nicht mehr flexibel aufgefangen werden. Das zunehmend Wackelige (Fragile) ist angewiesen auf immer stärkeren Schutz von außen. Die Resilienz menschlicher Gesellschaften schwindet: Ihre Fähigkeit, zu (inneren und äußeren) Gleichgewichtszuständen zurückzufinden.

Und noch stärker verkümmern die natürlichen Fähigkeiten lebender Systeme, unter komplexen Belastungen (und gerade in Unsicherheit) an Kompetenz zu gewinnen.

Stattdessen bekämpfen wir die Einzel-Einzelerscheinungen unserer vielfältigen Krankheiten. Und machen vieles noch schlimmer.

Aus dem Tunnel des „Gegen-an-Kämpfens“ herausfinden

Innehalten vor der alten Oper von Paris. Bild: Zwischenzeiten (svdf.de/archives/607)

Wie können wir friedliche, nachhaltige, gesunde Entwicklungen bahnen?

Bevor man etwas Neues gestalten kann, muss man immer zunächst damit aufhören, zu kämpfen und zu zerstören. Man muss eine Situation (gerade dann, wenn sie schwierig oder gefährlich ist) so annehmen, wie sie ist. Solange man noch mit Gewalt gegen etwas schlägt, was man nicht haben will, eröffnen sich keine Möglichkeiten oder kreative Lösungswege. Also: Aufhören, mit dem, was man gerade tut. Problemlösen beenden. Stehenbleiben. Innehalten.

Und dann den Bezugsrahmen wechseln.

Reframing

Reframing bedeutet, einen anderen Standpunkt der Betrachtung einzunehmen. Eine andere Sicht, die am besten durch einen Zufall bestimmt wird.

Ein Beispiel: „Lege mit sechs Streichhölzern eine Figur, die aus vier Dreiecken besteht.“ in 2 Dimensionen ist die Aufgabe nicht lösbar. In 3 Dimensionen entsteht ein Kegel.

Dann verändert sich der Raum der Möglichkeiten.

Die ‚Reframing-Technik‘ ist besonders wirksam, wenn man vor ernsten Problemen stehend „gerade-aus“ starrt. Oder ein Problem bekämpft, das den Weg verbaut. Psycholog:innen bezeichnen diese Denkblockade „Problem-Trance“.

Sie entsteht, wenn eine Flut von Einzelinformation, Fakten und Daten analysiert wird und die Übersicht verloren gegangen ist: der Zusammenhang, die Beziehungen, Wechselwirkungen und Veränderungen. Dann wird immer intensiver das Gleiche getan, mit heftigerem Aufwand und immer besserer Unterstützung durch Expert:innen, die einen Hammer besitzen, und deshalb das Problem klar als Nagel erkannt haben. Bis dann die Verzweiflung zum Zusammenbruch führt, zum Burn-out oder zur Depression.

Hammer und Nagel, Künstler unbekannt.

Kreativität statt Tunnel oder Hammer&Nagel

Es ist befreiend, schlagartig zu erkennen, dass es auch bewegtes Leben außerhalb einer eingeengten Sicht und ohne Interventionswahn geben könnte:

Von dem Chemiker Kekulé wird erzählt, er sei verzweifelt, weil er die Struktur einer einfachen Kohlenstoffverbindung nicht entschlüsseln konnte. In seinem Denkmodell war ein Kohlenstoffatom in einer Fläche immer genau mit einem anderen verbunden. Das ergab aber bei dem Molekül „Benzol“, das er untersucht, keinen Sinn. Erschöpft sei er nach langem Grübeln vor seinem Kamin eingenickt, und habe, plötzlich erwachend und noch halb verschlafen, in den Flammen tanzende Affen erkannt. Schlagartig sei dann vor ihm eine Lösung erschienen: Seine Kohlenstoffatome bilden einen Ring, der von einer Elektronenwolke eingehüllt war. Ein Zufall hatte sein altes Erklärungssystem einstürzen lassen, und in der Vision war eine bisher unbekannte Dimension aufgeblitzt.

Der Wechsel des Bezugsrahmens zeigt ein Ding, das wie eine Kreisfläche aussieht, von einer anderen Seite, so dass eine Stange erkennbar wird. Das Gleiche könnte auch aus einer anderen Ebene betrachtet werden, die den Gesamtzusammenhang zeigt, in der ein Geschehen eingebettet ist. Bild: Adler in Palästina, Jäger, Juni 2022

Archaische Ursprünge (Wahrsagen)

„Wenn die Brust des Vogels links löchrig ist …
(dann) wird der Feind das Land des Fürsten erobern.“ Keilschrift Mesopotamien

Kaum hatten aufrecht gehende Affen erkannt, dass es mehr geben könnte als die Gegenwart, versuchten sie die ungewisse Zukunft zu beeinflussen: mit Magie, schamanistischen Heilritualen und Beschwörungstänzen.

Durch zunehmend komplexere soziale Beziehungen entwickelten sich aus den Stammes-Ritualen der Medizinmänner Wahrsage-Institutionen, die den Herrschenden halfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wurde das Orakel allerdings „falsch ausgelegt“, konnte es auch schiefgehen.

So erging es Krösus (um 500 v.u.Z.), der siegesgewiss mit seinen Truppen den Grenzfluss Halys überschritt und das persisch-medische Reich angriff. Eine Trance-Priesterin (Pythia) im Apollontempel in Olympia prophezeite ihm, dass er ein großes Reich zerstören würde, wenn er einen Krieg begänne. Sie hatte recht, nur war das zerstörte Reich sein eigenes.

In Mesopotamien war lange vor Krösus eine Kenntnis-reiche und ausgeklügelt-politische Wahrsage Kunst entwickelt worden. Die aufgefundenen Tafeln beschreiben ein System der Analyse von Zeichen (“Wenn …”), aus deren Auftreten schicksalhafte Konsequenzen abgeleitet werden („Dann wird …“).

Etwa zeitgleich baute man in China das schamanistische Wahrsage-System zu einem umfassenden kosmologischen Gesamtkonzept aus, das für alle denkbaren Lebenssituationen Handlungsempfehlungen enthielt. Das auf einer binären Mathematik gegründete  „I Ging“ beschrieb keinen unveränderlichen Schicksalsverlauf, sondern eine Gegenwart, in der es möglich sei, zukunftsbeeinflussend zu handeln.

Die Traditionen der Zauberrituale und der Wahrsage-Kunst europäischer Völker wurden von den großen Religionen als Heidentum bekämpft und weitgehend ausgerottet. Deshalb sind heute zahllose “esoterische, alternative Heil- und Bewegungsformen” aus Asien, Afrika und Amerika so populär. Offenbar gibt es auch in Europa einen Bedarf an schamanistischen Heilritualen, was sich nicht zuletzt am florierenden Geschäft mit der Placebologie zeigt. Dabei zerfließen die Grenzen zu Scharlatanerie, Abzocke, Esoterik, IGeL, Hokuspokus und sektiererischer Ideologie.

Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Hier bestimmt ein guter Gott, der sicher nicht würfelt. Die Welt ist sicher und geborgen. Armenische Kirche in Ost-Jerusalem, Bild: Jäger, Juni 2022

Hellsehen und Wahrsagen

Schaman:innen und Wahrsager:innen versöhnen beleidigte (unsichtbare) Mächte: das Schicksal, die Ahnen und die Geister. Und sie bringen die, die an das Orakel glauben, zu sich selbst. Sie bieten Geborgenheit im unkontrollierbaren Chaos. Und damit den nötigen Schutzraum, damit sich die Natur selbst helfen kann.

Moderne Formen versöhnender Trance wie Meditation, Achtsamkeitstraining, Tanz, Aufmerksamkeitslenkung, Hypno-systemisches´Coaching und vieles andere können sehr heilsam wirken. Und manchmal auch zu autarker, selbstbestimmter Entwicklung verhelfen.

Allerdings sind dazu Kommunikationsqualitäten nötig, die in der digitalen Zivilisation verloren gehen.

Beispiel Medizin

Moderne Medizin besteht aus einem Gemisch aus Leitlinien-Wissenschaft, modern-schamaitischen Heilungsritualen und rationaler Zukunftsvorhersage. Ihre Vorhersagen gründen sich auf der uralten mesopotamischen Tradition der „wenn … – … dann!“-Sätze:

Test:

  • “Das Opfer-Schaf trug eine Fehlgeburt.”
  • „Der PSA-Wert ist erhöht!“
  • „O Schreck!“

Diagnose:

  • „Ein Angriff der Feinde steht bevor.“
  • „Es droht Prostata-Krebs.“
  • „Sterbe ich jetzt?“

Handlungsempfehlung:

  • „Den Feinden durch Angriff zuvorkommen.“
  • „In die Prostata stechen und Krebszellen radikal bekämpfen.“
  • Der Krebs muss besiegt werden!“

Glaube an Experten

Wichtig bei medizinischen Vorhersagen ist es (genau wie in der Steinzeit), dass die Auslegungsautorität nicht angezweifelt wird. Die eindeutige Diagnose muss von einer höchsten Experten-Autorität kommen:

  • In Mesopotamien vom Oberpriester der Staatsgottheit,
  • in der modernen Medizin von einem hochrangigen Professor, am besten von dem bekanntesten (männlichen) Spezialisten auf diesem Gebiet.

Zukunftsvorhersagen bewirken besonders dann heilsame Sicherheitsgefühle, wenn sie sich nicht nur auf Glaube und Hoffnung gründen, sondern auf einer „unanzweifelbaren Wahrheit“ beruhen.

I Ging. GraphiK: Marko N., 2024

Die Eingeweideschau in Mesopotamien entsprach einem Zufallsgenerator, den aber nicht jeder x-beliebige betätigen durfte, sondern nur Auserwählte. Der Zufall, dem eine „göttliche“ Bedeutung zugemessen wurde, erzwang es dann, den Standpunkt der Betrachtung eines Problems zu wechseln.

In Asien entwickelte sich eine ganz andere Wahrsage-Tradition. Sie war nicht linear auf Ursache-Wirkung ausgerichtet, sondern passte sich komplexen Situationen an. Statt „Wenn – Dann!“ beschreibt die konfuzianisch verfeinerte Technik eine  (zufällig gezogene) persönliche Situation (im I Ging), wie sie jetzt gerade aussehen könnte. Es wird dann vorgeschlagen, die dazu passenden Aussagen so zu betrachten, als ob sie auf die aktuelle Situation zuträfen (Littlejohn 2007).

Es selbst versuchen

Modernes Reframing kommt ohne Mystik, Esoterik, Zauberei und Theologie aus.

Wichtig ist es nur, vor der Zufallsauswahl mit dem Problemlösen aufzuhören, und sich eine wirklich gute (wahrhaftige, ehrliche, tatsächlich bedeutsame) Frage zu stellen.

Manchmal reicht es für neue Ansichten aus, eine Nacht zu schlafen und zu träumen. Oder probieren sie es systematischer aus:

  • Wählen Sie eine Zufallszahl zwischen 1 und 512
    (https://zufallsgenerator.net oder )
  • Laden Sie die Zitatesammlung: Zitate-Jaeger-19062022
  • Schauen Sie unter der gezogenen Zahl nach:
  • Lassen Sie das Zitat etwas wirken und fragen Sie dann:
  • Fragen Sie: „Was hat das gefundene Zitat mit meiner Situation zu tun“?

Der Zufall verweist nicht darauf „wie es ist“, sondern nur auf eine Möglichkeit, wie es (auch) sein könnte.

Hinter dem (reinen) Zufall steht absolut nichts: kein tieferer Sinn, keine Wahrheit.
Vorstellung und Fantasie erweitern den Raum der Möglichkeiten.

Mehr

Literatur

Mesopotamien

Wahrsagekunst an der Börse

  • Taleb N: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. Knaus-Verlag, 2013
  • Taleb N: Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Hanser Wirtschaft, 2008, Web: fooledbyrandomness

I Ging

  • Ältere, schamistische Fassung: Fiedeler F: Yijing. Das Buch der Wandlungen, Dietrichs, 1996
  • “Moderne”, konfuzianische Überarbeitung: Wilhelm R: I Ging Text und Materialien, Dietrichs, 12, Auflage 1985
  • Littlejohn R: Kongzi on Religious Experience. Southeast Review of Asian Studies, 2007, Volume 29:225–32
Letzte Aktualisierung: 13.07.2024