1. Home
  2. /
  3. Kultur
  4. /
  5. Euro-asiatische Kultur
  6. /
  7. Ost-West-Beziehungen
23. Juni 2024

Ost-West-Beziehungen

Inhalt

Kabul, 2017, Bild: afghanic.de
  • Protestantismus und Aufstieg des Kapitals
  • Westliche Abenddämmerung in Afghanistan
  • Geht der Westen unter?

Interne Links:

Protestantismus
und der Aufstieg des Kapitals

Am 31.10.1517 schlug Martin Luther (1483–1546) seine fünfundneunzig Thesen an die Kirchentür von Wittenberg. Damit soll die Reformation begonnen haben.

Einhundert Jahre zuvor hatte der Rektor der Universität Prag, Jan Hus (1370–1415) gegen den sittlichen Verfall der Kirche gewettert und eine strenge, tugendhafte Lebenslehre gepredigt. Dafür landete er auf dem Scheiterhaufen. Im Gegensatz zu Luther war es ihm nicht gelungen, gesellschaftlich Mächtige für seine fromme Askese zu interessieren. Seine Zeit war dafür bisher nicht reif.

Vergessen wird häufig auch Thomas Müntzer (1489–1525). Er predigte bereits vor Luther gegen den Ablasshandel, und galt bald als der radikale Motor der Reformation. So wurde er für alle Fraktionen des Adels und des Bürgertums gefährlich. Als die ursprünglich kirchliche Reformbewegung zu einer gesellschaftlichen Revolution ausartete, sah Thomas Müntzer in den aufständischen Bauern Werkzeuge Gottes, die eine Veränderung der Welt herbeiführen sollten. Luther dagegen strebte nach einem Einvernehmen mit reformierten Adeligen und Bürgern. Deshalb, so forderte er, solle man

„die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern …
zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann,
wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“

So geschah es dann auch: Thomas Müntzer, der Sozialrevolutionär, wurde hingerichtet.

Plünderung des Klosters Weißenau um 1525

Der deutscher Bauernkrieg („Die frühe bürgerliche Revolution“ Steinmetz 1985) erwies sich als ein Trauma mit sehr weitreichenden Folgen. U. a. liegt der damals geraubte Grund und Boden bis heute in den Händen der Familien, deren Vorfahren damals so plünderten und mordeten wie Georg der Bauernjörg.

Möglicherweise nahm das Obrigkeitsdenken, für das die Deutschen berühmt sind, in dieser Tragödie seinen Ausgang. Der brave deutsche Michel unterscheidet sich jedenfalls deutlich von der jubelnden, französischen Marianne, deren Revolution anderthalb Jahrhunderte später siegreich verlief.

Martin Luther schlug sich damals auf die Seite der Sieger:

Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523)

Die von ihm geprägte Reformation konnte sich so auch ökonomisch ausgesprochen erfolgreich entwickeln:

Max Weber (1905) : „Die protestantische Ethik und der ‘Geist’ des Kapitalismus.“ – Zusammenfassung

Die alte Feudalherrschaft, und die mit ihr verbundene katholische Kirche standen der unbegrenzten Produktion und dem freien Austausch von Waren und Arbeitsleistungen im Wege. In der neuen sittlichen Ordnung war es für das Seelenheil nicht mehr nötig, besondere Gott gefällige Werke zu erschaffen. Denn es reichte völlig aus, Tag für Tag das zu tun, was getan werden musste. Und das streng, fleißig, freudlos und ohne sündige Gedanken, denn vergeben wurde nichts mehr.

Wer Reichtümer erwirbt, wird von Gott geliebt.

Es war diese protestantische Ethik radikaler Auswanderer (Puritanismus), die den Aufstieg der USA zur Weltmacht beförderte. Und nun kriselt das Wertesystem angesichts deutlicher Verfallserscheinungen.

Das erklärte den rauen Ton im Lagerwahlkampf um die Präsidentschaft der USA. Allerdings verband die erbitterten Gegner Hillary Clinton und Donald Trump einiges. Beide wurden auf der Grundlage der gleichen Ethik reich und mächtig. Natürlich wollte auch Hillary Clinton, dass „Amerika wieder groß wird.“ Beide strebten nach mehr Wachstum, mehr Gewinnen, mehr Erfolgen, mehr Macht und großartigeren Bilanzen. Und beiden wurde zur Durchsetzung ihrer unterschiedlichen Strategien alles zugetraut. Ökonomisch waren sie ähnlich erfolgreich. Moralisch aber erschienen sie leer: Denn beiden war das Wertesystem, in dem sie aufwuchsen, und das sie vorzugaukeln versuchen, abhanden gekommen.

Die Krisen des Kapitals und der protestantischen Ethik

Die Enkel protestantisch „Reiner“ (engl. puritans), die sich einmal für besonders moralisch hielten, stehen heute für eine entfesselte Raubtier-Mentalität:

Tea Party Patriots : Our visons: Personal Freedom, Economic Freedom …

Ihr Sieg wird einigen Reichen dazu verhelfen, noch reicher zu werden: auf Kosten anderer. Die absehbaren Umweltschäden werden das Anthropozän (das Zeitalter des Menschen) noch etwas näher in Richtung Abgrund rutschen lassen.

Dagegen gehen von dem Gegner des Protestantismus, der „papistischen“ Ideologie zarte Signale aus, die zu nachhaltigen und sozial-verträglichen Entwicklungen führen könnten, zu weniger Wachstum, weniger Erfolgen, weniger Gier und weniger Gewinnen:

Laudato si‘  Papst Franziskus. 24.05.2015

Westliche Abenddämmerung in Afghanistan

„Nicht die Taliban, sondern wir haben den Staat zerstört!“, Gilles Dorronsoro, NZZ 02.09.2021 Bernd Greiner: Made in Washigtion. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichet haben CH Beck August 2021. Ergänzend interessant: Schneider A, Kolenda KD: Generation 2021, Verlag fifty-fifty. Daniele Ganser: Übersichts-Vortrag 08.09.2017, Buch: Imperium USA, Orell Füssli 2020

2022 ist der Versuch, einen sinnlos-neokolonialen Krieg durch (nett gemeinte) Entwicklungszusammenarbeit abzusichern, gescheitert. Wie im letzten Jahrhundert die Strategie, Kolonialausbeutung durch Missionsstationen zu garnieren.

Nach dem verlorenen USA-Krieg begann bruchlos das nächste Fiasko in der Sahelzone.  

Auch die dortigen Probleme sind eine Folge westlicher Kriegsintervention (u.a. in Libyen). Auch dort scheitert die Militärintervention weitergeführt trotz der Lieferung deutscher Exportschlagern (Solarzellen, Elektrotechnik Tagesschau 02.05.2021). Wie in Afghanistan: eine Kombination aus Militärgewalt (zur Sicherung der Handelswege und Grenzen) und deutscher Wachstumsförderung.

Was tun für Afghanistan?

„Der eigentliche Fehler – das eigentliche Verbrechen – war der Überfall auf Afghanistan 2001 … Er hat nicht nur über zwei Billionen US-Dollar gekostet, sondern das Leiden der Menschen in Afghanistan verstärkt, Hass gesät und Konflikte unter den Volksgruppen Afghanistans weiter angeheizt. Was jetzt geschieht, ist die Ernte von zwanzig Jahren, in denen man meinte, Toleranz, Akzeptanz grundlegender Menschenrechte und Demokratie durch Gewehre und Drohnen erzwingen zu können.“ Erklärung des Bundes für soziale Verteidigung am 17.08.2021

Militärinterventionen beenden

Entwicklungszusammenarbeit als Geschäftsmodell vieler Interventionen und Projekte, hat seit einem halben Jahrhundert vielfach versagt. In Afghanistan seit 2001 mit dreizehn Milliarden versenkten Euro besonders bemerkenswert, weil verbunden mit Kriegsverbrechen (MOAB: 13.04.2017)

Elizabeth Thompson: Remnants of an Army.
William Brydon, einziger Überlebender der ‚Bengalischen Armee‘, vor Jalalabad. Alle anderen der englischen Besatzer starben: Das größte Desaster kapitalistischer Expansions-Gier im 19. Jh.

Große Teile davon werden allerdings (wie bei kapitalistisch motivierter „Hilfe“ üblich) das Land nie erreicht. Nur selten führte sie zu nachhaltigen Entwicklungen. Und oft waren die Probleme, die aus der Entwicklungszusammenarbeit Probleme erwuchsen, größer sind als die, die sie lösen sollten (Beispiel).

Die unterstützen, die sich dort engagieren!

Viele engagierte Menschen (auch aus der Bundeswehr und aus der Entwicklungszusammenarbeit) haben sich intensiv engagiert um eine positive (von Frauen mitbestimmte) Entwicklung Afghanistans zu unterstützen

Die Dewangbegi Clinic (Bild rechts) ist ein 2016 gegründetes Gesundheitszentrum in einer Vorstadt Kabuls, das von dem Verein Afghanic begleitet wird. Es wird von einer Gynäkologin geleitet, und mehr als die Hälfte des beschäftigten Personals ist weiblich. 2020 wurden über 16.000 Patientinnen und Patienten medizinisch versorgt. Fast 90 % der täglich ca. 70 PatientInnen sind Frauen und Kinder.

Die Klinik liegt in einem Wohngebiet, sodass die meisten Frauen ohne männliche Begleitung kommen können.

Das Elend des Westens

29.08.2022: Alle Mitarbeiter:innen sind weiterhin vor Ort tätig (Bild: http://www.afghanic.de

„Man wollte nie die Herzen gewinnen. Es fehlte an Kulturkompetenz. Von Anfang an war es ein Feldzug! …“ Reinhard Erös, Kinderhilfe Afghanistan, FAZ 17.08.2021

Wir (im Westen) müssten dringend

  • von unserm Wachstums-Zwang wegkommen,
  • Reichtum abgeben,
  • zu einer gerechten, friedlichen Welt-Innenpolitik finden,
  • radikal umzusteuern (angesichts der evolutionären Wand, auf die wir zurasen).

Allerdings, ob Schwarz, Rot, Gelb oder Grün, alle streben vor der Wahl nach neo-kapitalistischem ReSet-Wachstum, und Krieg für freie Märkte. Aber gerechte Weltsicherheits- und Wirtschaftsordnung, Negativ-Wachstum in kapitalistischen Führungsstaaten, und ohne werte-orientierte Welt-Innenpolitik wird den Menschen an vielen Orten der Welt der Boden unter den Füßen wegzogen. Wenn die Kriege um Rohstoffe und Einflusszonen weiter so toben, als hätte es das Afghanistan-Fiasko nicht geben, wird auch die Stabilität in den reichen Nationen gefährdet werden.

Der „Fall Afghanistans“ und die vielen Katastrophen, die sich 2021 aus der Zerstörung der Biospäre ergaben, zeigen, dass USA geführte Modelle aus Wachstum, Expansion und Krieg dringend durch ein anderes, ein friedvolles, ersetzt werden müsste.

Erforderlich wäre ein „Bewusstseinswandel“: hin zu einem qualitativen Umbau der Gesellschaft mit Biosphären-freundlichen Zukunftsperspektiven. Der militarisierte Raubtier-Kapitalismus herkömmlicher Prägung sollte möglichst bald eingemottet werden.

Möglicherweise ist diese Erkenntnis im Osten etwas weiter gereift. Zumindest scheinen sich einige asiatische Länder hinsichtlich Afghanistan gerade etwas klüger zu verhalten als die NATO.

Mehr

Geht der Westen unter?

„Wer rettet den Westen?“ Der Spiegel Nr. 17 / 2018

Seit einhundert Jahren wird Spenglers düstere Vision des „Untergang des Abendlandes“ (1918) von der Geschichtswissenschaft verrissen. U. a. von Karl Popper, der darauf hinwies, dass es in der Geschichte „geschlossene Gesellschaften“ nicht geben kann. („Das Elend des Historizismus“)

Zudem schwang sich ja die Leitkultur des Abendlandes (freier Fluss von Produkten, Finanzmitteln, Kapital und Arbeitskräften) im 20. Jahrhundert erfolgreich in schwindelnde Höhen auf. Und alle realen oder denkbaren Alternativen zur westlichen Marktwirtschaft brachen im 20. Jahrhundert in sich zusammen.

Jetzt aber, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, scheint die auf Wachstum gegründete euro-nordamerikanische „Wertegemeinschaft“ zu schwächeln. Zwar ist die Militär- und Wirtschaftsmacht „des Westens“ immer noch tonangebend, aber zugleich zeigen sich die Folgen der Ideologie des unbegrenzten Wachstums immer deutlicher: die Meere verdrecken, das Klima erwärmt sich, die Artenvielfalt nimmt ab, die Kriege nehmen zu, die Böden versauern.

Aber solange es noch gut geht, besteht parteiübergreifend Einigkeit, so wie bisher weiter zu wirtschaften. Nur über die Art der Verteilung unserer Reichtümer besteht Dissens und über die Art der Abschottung.

Im Westen nichts Neues?

Bei Spengler beginnt das Abendland um 900 n.u.Z in Europa. Das trifft nicht zu, u. a. weil die abendländische Leitkultur des Kreuzes wesentlich älter ist und u. a. in den östlichen Religions-Philosophien wurzelt. Das Christentum wurde zusammengerührt aus römischem Muttergotteskult, jüdischer Schriftlehre, indischen und griechischen Weltentsagungs-Religionen und den keltisch-indisch-germanischen Doppel-Hierarchien, bei denen dem Heerführer ein (für das Spirituelle zuständiger) Druide-Brahmane-Priester zur Seite stand. Damit bildeten West- und Oströmisches Christentum (Katholizismus und Orthodoxie) den idealen geistigen Überbau für den Feudalismus, und (später) auch für den Kolonialismus, der ebenso auf der Territorialmacht und der Ausbeutung von Ländereien aufbaute.

Damit die feudal-unterjochten Massen wirksam im Glauben zusammengehalten wurden, wurde ihnen durch einprägsame Rituale das vermittelt und verkündet, was sie verstehen sollten und tun mussten. Nur wenigen Auserwählten wurden die Mysterien in inneren, geschlossenen Zirkeln offenbart  (Assmann: Religio duplex). In der christlichen „Doppelreligion“ (Rituale fürs Volk und Geheimlehren für Insider) war es völlig unnötig, lateinische Bibel-Texte zu übersetzen, denn das Volk sollte nur glauben und folgen, aber nicht versuchen, etwas zu verstehen.

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte taumelten die Feudalsysteme und ihre Kirchen in eine Sinn-Krise, wie sie der Roman Don Quichote schildert. Geld und Waren verlangten zunehmend nach freiem Austausch,  und schließlich mussten auch die Leibeigenen und Sklaven befreit werden, damit sie als beliebig einsetzbare Lohnarbeiter dorthin verschoben werden konnten, wo das Kapital sie brauchte. Für diese veränderte gesellschaftliche Ordnung mussten neue Formen des ideologischen Überbaus entstehen, die sich, wie die protestantische und die jüdische Ethik, dem unbegrenzten Wachstum des materiellen und finanziellen Kapitals besser anpassen konnten. (Weber 1905)

Solange es dann Europa und Amerika, stetig wachsend, immer besser zu gehen schien, bildeten sich besonders nach dem 2. Weltkrieg auch Werte heraus, die das Leben im Westen heute so angenehm machten: Meinungsfreiheit, Liberalität, sozial abgefederte Marktwirtschaft, Menschenrechte, Gleichberechtigung, Rechtssicherheit, Umweltschutz, Bildung …

All das war und ist teuer, aber es sorgte „im Westen“ für Ruhe, relativ stabile Lebensbedingungen, hohes Konsumverhalten und für die ergänzende Ablenkung durch Medien, Events, Spiele, Web-2 und Genuss- oder Suchtmittel. Zunehmend aber kam trotz dieses Wohlstandes unmerklich der Sinn abhanden:

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Helmut Schmidt 2009

Ohne ideologischen Überbau, der (wie ein Gott oder eine positive Zukunftsphantasie) über den Herrschenden steht, und einen Gemein-Sinn vermittelt, verhalten sich erfahrungsgemäß die Massen bei ernsthafteren Erschütterungen unangenehm. Denn sie suchen sich dann irrationale Führer, die sie verstehen können und denen sie glauben, und fegen möglicherweise das weg, was ihnen im Weg steht.

Der „Westen“ ist also bedroht: Die Ideologie der alten Kirchen verliert immer mehr Glaubwürdigkeit. Und die Ersatzreligionen (wie uva. der Fußballgott), lenken zwar erfolgreich ab, weisen aber nicht in eine erstrebenswerte Zukunft. Aber andere Ideologen (die sich nicht um Demokratie scheren) verfügen sehr wohl über Visionen und nutzen auch die modernen Formen der ameisenhaft gesteuerte Lenkung zunehmend für ihre Zwecke (Jaron Lanier: TED Vortrag)

In Russland und Polen wird versucht, die alten christlichen Kirchen für moderne Formen der Machtausübung und Kontrolle wiederzubeleben. Dort segnen Popen mit mittelalterlichem Ritual-Gehabe Raketen, oder Minister des 21. Jahrhunderts knien, wie im Wahn, ergriffen vor Maria. Beides wirkt aufgepfropft, und hat mit der gottlosen Kapitaldynamik, die auch in diesen Ländern die Märkte beherrscht, nichts zu tun, sondern sorgt nur für etwas Stabilität in unsicheren Zeiten.

Die Mullahs und Scheichs versuchen sich an einen mittelalterlichen Islam zu klammern, und ihn der Dynamik der Kapital-Märkte überzustülpen. Aber solange der Islam noch auf eine modernisierende Reformation wartet, steht er prinzipiell im ideologischen Widerspruch zur Unterordnung aller Werte unter das Gewinnstreben, das aber genau diese islamo-kapitalistischen Gesellschaften beherrscht. Die Stabilität der islamischen Theokratien beruht nur auf auf dem Verkauf fossiler Brennstoffe beruhen, die zufällig unter ihrem Territorium herumliegen, und da sie trotz konservativer Religiosität zunehmend ethisch verarmen, werden sie irgendwann implodieren oder von Revolutionen durchgeschüttelt werden, aus denen dann zwangsläufig neue (aus dem Islam erwachsene?) Ideologieformen entstehen müssten.

Steigt „der Osten“ auf, wenn „der Westen“ untergeht?

In China wächst klammheimlich und we­itgehend unbemerkt eine neue (und zugleich alte) Ideologie, die den Kapitalismus zu integrieren versucht, um in so zu dominieren. Man könnte sie mit dem alten chinesischen Bild „Auf dem Tiger reiten“ beschreiben.

Der Tiger macht aus Angst Angst. Yüan Shih-chen, 1938

Nach den Schrecken und Hungerjahren der Kulturrevolution, wurde in China ein raubtierartiger, brutaler Frühkapitalismus entfesselt, der zu entsetzlichen Umweltzerstörungen führte. Der Wahnsinn der Bilderstürmerei hatte die ideale Basis geschaffen, für ungehindert freies Wachstum des Kapitals. Alles, was sich im „Westen“ als nützlich und produktiv erwiesen hatte, wurde erfolgreich kopiert, und scheinbar kritiklos übernommen. Mit Erfolg: Deng Xiao Pings Katze fing tatsächlich Mäuse. Peking erstickt zwar im Smog, aber die Wirtschaftsmacht Chinas wächst immer stärker.

Warum gelang es dem „Westen“ nach der Kulturrevolution nicht, so wie in Opiumkriegen im 19. Jahrhundert, China wieder zu unterjochen?

Statt das am Boden zerstörte Großreich an den „Westen“ auszuliefern oder, wie in Russland, an Oligarchen zu verhökern,  besannen sich die chinesischen „Kommunisten“ um Deng Xiao Ping auf die zweitälteste Staatsreligion der Erde: den Konfuzianismus. Er entstand etwa 300 Jahre nach der Gründung des ersten Gottesstaates im persisch-medischen Großreich, das von dem Monotheismus des Zarathustra zusammengehalten wurde.

Konfuzius, ein Ritual-verliebter Opferpriester, benötigte für seine formal-streng, ritualisierte und regulierte Religion keinen Gott. Vielmehr sollten die heiligen und symbolischen Handlungen so ausgeführt werden, als ob es Götter, Geister oder Ahnen gäbe. Damit Menschen, harmonisch und „human“ handelten, benötigten strikte Regel, Kontrollen und eine ernste straff organisierte hierarchische Führung.

Mit diesem Mix aus Raubtierkapitalismus und konfuzianischen Ritual entwickelte sich tatsächlich ein chinesisches Wirtschaftswunder, ohne Ausbruch sozialer Widersprüche und Aufstände. Maximale Ausbeutung, Umweltverseuchung und schlimmes Unrecht, lösten keine Klassenkämpfe aus und führten nicht einmal zur Gründung von Gewerkschaften. Die das Land führende Organisation nannte sich weiterhin kommunistisch, und dass sie es nicht ist, wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Gäbe es „Kommunisten“, die von ihrer Partei die Durchsetzung ihrer Ideale (z. B. Arbeiterrechte), würden sie vermutlich als gefährlich-subversive Elemente bekämpft werden.

Gemeinsam sind dem modernen, dem klassischen Konfuzianismus die höchste Autorität (des Kaisers oder des Parteivorsitzenden). Allerdings bildete der neukonfuzianische Beamtenapparat vor 2000 Jahren den Staat, während heute die Macht ausübende KPCh parallel zu Staat und Wirtschaft organisiert ist, und so von keiner anderen übergeordneten Autorität kontrolliert werden kann. Nicht von den Parlamenten, von keinem Gericht und von keiner Regierung. Idealerweise kann sie so das Volk effektiv lenken, den inneren „Frieden“ bewahren, die zerstörerischen Effekte des explosiven kapitalistischen Wachstums im Zaum halten und die Auslieferung an das westlich bestimmte Kapital verhindern. Das Modell Hongkong, in dem der „ideologisch sinnentleerte Westen“ seine Finger im Spiel hat, ist deshalb für Peking langfristig perspektivlos.

Der Konfuzianismus war und ist eine starke und eifersüchtige Religion, die vielfach bewiesen hat, dass sie effektiv für Ordnung, Harmonie und Stabilität sorgt, die Massen zusammenhalten kann und schon im Ansatz Rebellionen, Unruhen, Streiks und Aufstände verhindert. Individuelle Freiheiten (oder gar Demokratie) sind ihm ebenso fremd wie mystisch, spirituelle oder jenseits-bezogene Glaubenssysteme (Daoismus, Islam, Christentum, Buddhismus). Und wie vor 2.500 der alte Opferpriester machen sich jetzt moderne Konfuzianer daran, durch ein lückenloses Sozialkontrollsystem einen neuen Menschen zu erziehen (Stern 17.05.2018)

Westlern mag dabei ein Schauer des Entsetzens über den Rücken, aber immerhin scheinen in dieser neu-konfuzianischen Theokratie keine Psychopathen oder Narzissten zu regieren, sodass in der Weltlage China wie einen Hort der Stabilität und Ruhe erscheint.

Letzte Aktualisierung: 13.07.2024