30. August 2024

Heilpflanzen

Säugetiere speichern Erfahrungen, können aus ihrer Erinnerung Lösungsstrategien ableiten und geben sie im Rahmen sozialer Kommunikation weiter.

In der Evolution von Elefanten, Gorillas und Bonobos scheinen sich Tiere durchgesetzt zu haben, die in ihren sozialen Gruppen weniger zu direkter Aggression neigten. Die also eher fähig waren, den anderen nützliche Erfahrungen zu vermitteln (PNAS, 2023). Zum Beispiel, ob bestimmte Pflanzen nahrhaft oder giftig sind. Oder wie man sich mit vergorenem Obst berauschen kann. (Science 09.07.2015)

2022 wurde eine Selbstbehandlung bei einem Orang-Utan beobachtet. Er war bei einem Kampf im Gesicht verletzt worden, sammelte die Blätter eines Strauches, kaute sie lange und schmierte sich das Gemisch dann in die Wunde. Offenbar sehr erfolgreich, denn der Hautdefekt heilte reizlos ab. (Nature 2024)

Ein im Kampf verletzter Orang Utan kaute Blätter einer antispetisch wirkenden Pflanze (Akar Kuning – Fibraurea tinctoria) und schmierte das Gemisch in die offene Wunde. Mit Erfolg. Laumer: Nature (2024) 14:8932

Frühe Pflanzenkenner:innen

Die ersten menschenähnlichen Savannen-Affen lebten zunächst als Sammler und Verwerter von Aas. Erst allmählich entwickelten sie sich (mit ersten Distanzwaffen) zu gefährlichen Raubtieren.

Menschen unterschieden, wie andere Säuger auch, nahrhafte von giftigen Pflanzen. Möglicherweise wurden einige Grunderfahrungen genetisch eingeprägt. Babys und Kleinkinder mussten z.B. über Millionen von Jahren vor dem Kauen ihnen noch unbekannter (und möglicherweise giftiger) Kräutern bewahrt werden. Und bis heute ekeln sie sich vor grünlichem Gemüsebrei.

Sobald die Wirkung bestimmter Gifte verstanden war, begann man damit, Pfeilspitzen zu präparieren. Eher zufällig wird man auch Gifte entdeckt haben, die in niedrigerer Dosierung stark beruhigten, die Leistungsfähigkeit steigern oder in ferne Welten entführten: Kava-Kava, Betel, Bilsenkraut, Qat, Kampfer, Fliegenpilz, Cannabis, Pilze, Coca, Mohn (Brau 1969).

Allmählich wurde auch beobachtet, dass bestimmte Gifte in geringer Menge oder in verdünnter Form bei Krankheiten lindernd wirken können, oder bestimmte Auflagen oder Spülungen Wundheilungen begünstigen. Oder einige Pflanzenprodukte Bauchschmerzen verringern und Würmer vertreiben. Oder man den Geschmack des Gekochten durch Gewürze verbessern konnte, und bestimmte aufgekochte Pflanzenbestandteile als Teegenuss bereiten.

Heilpflanzen

Je nach Region wird man den Nutzen einfacher Heilpflanzen als Stammes-Wissen weitergegeben haben (Arnika, Johanniskraut, Kamille, Papaya, Kümmel u. v. a.).

Und auch die Art ihrer Zubereitung musste kulturell gelehrt werden.

Je nach Pflanze werden Wurzeln, Blättern, Blüten oder Säfte benutzt. Der Herstellungsprozess der wirksamen Darreichungsform Droge ist abhängig von der Art, wie die enthaltenen Wirkstoffe in der Pflanze vorkommen. Entweder müssen sie durch Abkochen gelöst werden, oder sie sind nur in sehr frische Pflanzensäften vorhanden, oder in alkoholischen Auszügen, oder in heraus gepresstem Öl.

Bei so gewonnenen Pflanzenprodukten fließen die Übergänge von nützlich, zu heilsam, bis zu giftig. Dabei ist die Toleranzspanne manchmal gefährlich eng. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Tollkirsche (Atropa belladonna). Ihr wichtigster Inhaltsstoff Atropin kann bei kenntnisreicher Anwendung krampflösend wirken, oder auch rasch zum Tod führen. Ähnlich verfällt es sich bei Ricinus, Fingerhut, Cassia u. v. a.

Eine nutzbringende Anwendung, entweder als Gift oder als Heilmittel, erfordert Erfahrungs-Wissen. Heranwachsende mussten von älteren Frauen oder Männern lernen, Verletzte oder Erkrankte im Stammeslager mit Tees, Pflanzenextrakten, Pulvern oder Auflagen versorgten. Je nach Klimazone z.B. mit AloeBeifuß (Artemisin), Baldrian, Eukalyptus, Hopfen, Johanniskraut, Kümmel, Melisse, Nelken, Pefferminze, Ringelblume, …

Kulturell erworbenes Wissen um Nutz- und Giftpflanzen war unverzichtbar für das Überleben der Gruppe. Es nahm stetig an Umfang zu. Und musste schließlich in einer Art von Ausbildung an ausgewählte Schüler:innen weitergegeben werden.

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Ein „mganga“ (Kräuter-heilkundiger) aus dem Volk der Massai. Er war (wie ein Apotheker) davon überzeugt, die direkte Wirkung seiner Mittels zu kennen. Und auch die Nebenwirkungen bei falscher Anwendung. Von Magie („uchawi“) verstand er nichts. Foto: Verkauf eines Mittels gegen die Covid-19-Infektion. Bild: Jäger, Tansania 2022

Starb eine Kräuter-heilkundige Frau, ohne ihr Wissen zuvor praktisch weitergegeben, war es für den Stamm für endgültig verloren. Folglich wird sie bis ins hohe Alter besonders geachtet und liebevoll unterstützt werden.

Das könnte einer der Gründe sein, warum es sich in der Selektion von Frühmenschen entwickelte, dass Frauen nach dem Ende ihrer Fortpflanzungsfähigkeit weiter leben. Im Gegensatz zu weiblichen Schimpansen, die nach ihrer Menopause versterben.

Die Großmütter der Frühmenschen werden, besonders bei Kindern, wichtige Pflegeaufgaben übernommen haben. Die Anwendung von Heilkräutern wird ihre Kompetenz vermittelt haben. Die Behandelten vertrauten ihrer Heilkundigen und schöpften neue Hoffnung. Sie beruhigen sind und konnten im Gefühl der Sicherheit gesunden.

Allmähliche Differenzierung von Heilsystemen

Ethnologische Untersuchungen noch existierender, frühzeitlicher Kulturen beschreiben, dass die ersten frühen Heilsysteme nicht nur liebevoll versorgten und Heilpflanzen anwenden, sondern auch die Lebenden mit dem Unsichtbaren versöhnten.

Pflegerin, Kräuter-Heilkundige oder Schamanin konnten ganz unterschiedliche Personen sein, die je nach Art oder Schweregrade der Erkrankung aufgesucht wurden.

Leichte, vorübergehende Alltagsprobleme heilten bei guter Versorgung und Pflege der Mutter oder der Großmutter von selbst.

Verletzungen, starke Schmerzen oder fiebrige Erkrankungen erforderten die Kompetenz der Kräuter-Heilkundigen. Das konnten Generalisten sein, oder auch Spezialisten für Schlangenbisse, oder Wunden, oder Geburtswehen oder Kopfschmerzen. Bei ihnen stand die Kenntnis der direkten Wirkung des jeweils verwendeten Pflanzenproduktes im Vordergrund: etwa Entzündungshemmung, Krampflösung, Schmerzlinderung oder Beruhigung.

Fühlt man sich intensiv oder gar lebensbedrohlich angegriffen und sah keinen direkten Feind vor sich, wurden die Expert:innen für das Unerklärliche aufgesucht. Diese Schaman:innen versöhnten die Ahnen und Geister, deren Zorn das Unglück verursacht hatte. Dafür benutzten sie andere Pflanzen, deren Inhaltsstoffe die Hirnchemie durcheinanderwirbelten.

„Wir haben dem Rausch viel zu verdanken.“
Rückert G. Mosaik-Verlag 2023

Moderne Medizin mit Pflanzen in traditionellen Kulturen

Die Anwendung von Heil-Kräutern dient der Linderung körperlicher Beschwerden. Schamanismus beschäftigt sich mit dem „Geistigen“.

In (heute noch lebenden) traditionellen Kulturen werden die modernen (rein chemischen) Pharmaprodukte der Pflanzen-Heilkunde oder der (betrügerischen) Scharlatanerie zugeordnet. Sie werden als weniger bedeutend eingeschätzt, als die ernsthaft versuchte Beeinflussung des Unerklärbaren, zu der nur auserwählte, prophetisch begabte Menschen in der Lage waren.

Stellenwert der Pflanzenmedizin in modernen Medizintheorien

Zubereitungen von traditionellen Pflanzen-Extrakten und Pharmaprodukte unterscheiden sich (selbst wenn im Pharmaprodukt Moleküle pflanzlichen Ursprungs enthalten sind, wie Digitalis):

  • Phytopharmaka enthalten immer ein Gemisch vieler unterschiedlich stark und schwach wirkender Substanzen
  • Moderne Pillen transportieren nur eine (oder wenige) reine, chemisch aktive Verbindungen

Die spezifische, punktgenaue Wirkung ist bei Pflanzenprodukten relativ schwach (bei einer für Menschen verträglichen Dosierung). Sie besitzen aber oft starke (nicht spezifische) allgemeine Auswirkungen auf den ganzen Organismus. So wie die Auslösung eines Wärmeempfindens einer Salbe, oder eines Wohlgefühls beim Einsaugen des Duftes eines Tees oder die erlösende Entspannung in einem Aroma-Bad.

Beifuß (Artemisin), Bild: ronin@posteo.de

Ein reines, weißes, industriell hergestelltes Pulver enthält oft nur eine hochspezifisch und genau wirkende Molekülgruppe, die idealerweise nur wenige, nicht spezifische Neben-Wirkungen auslöst.

Beides (Behandlung mit reiner Chemie, oder pflanzlichen Gemischen) hat Vor- und Nachteile:

Die Pflanzen-Auszüge von chinesischem Beifuß (Artemesia) wirkte z. B. viele Jahrhunderte lang relativ gut gegen „Sumpffieber“ (vermutlich meist Malaria).

Die Reinsubstanz ‚Artemesinin‘ wurde schließlich chemisch synthetisiert, und erwies sich als eines der wirksamsten, spezifischen Malaria-Medikamente, besonders in akuten Erkrankungs-Phasen.

Seit einigen Jahren tauchen aber zunehmend Resistenzen gegen Artemesinin auf. Die waren aber bei reinen Pflanzenanwendungen (wegen der gemischten Inhaltsstoffe) nie beobachtet wurden. Weil die Parasiten bei Pflanzenextrakten mit unzählig vielen Molekülgruppen konfrontiert werden, also kein Selektionsdruck durch ein einziges Molekül ausgelöst wird.

Verwendung von Heilpflanzen bis heute

Direkte Pflanzenprodukte (als Gemisch unterschiedlicher Inhalts-Moleküle) können unterstützend wirken, wenn sich die Natur des Patienten noch selbst helfen kann.

Moderne Pharmaka (die auch Pflanzenprodukte enthalten können) sind dagegen unverzichtbar in Notsituationen, wenn Selbsthilfe ausgeschlossen ist.

Die meisten Heilpflanzen sind sogenannte Mehrzweckpflanzen, die für vieles benutzt werden können. So kann z. B. die Kamille innerlich und äußerlich angewandt werden, Papaya und Yams als Heil- und Nahrungsmittel, Knoblauch, Nelken und Kümmel als Heil- und Gewürzmittel, Kaffee als Heil- und Genussmittel. Kokospalmen sind besonders multifunktional. Sie liefern Kokosnüsse zum Essen, Öl zum Kochen, Milch zum Trinken, Fasern des Stammes zum Hausbau oder zur Seilherstellung und Blätter als Viehfutter.

Welcher Teil der Pflanze als Heilmittel genutzt wird, ist je nach Pflanze unterschiedlich. Bei einigen werden Wurzeln, bei anderen Blättern, Blüten oder Säfte benutzt. Die Droge kann aus getrockneten Pflanzenteilen wie Blättern oder Blüten, aus frischen Säften der Pflanze oder aus den Wurzeln gewonnen werden. Der Herstellungsprozess der Droge ist abhängig von den in den verschiedenen Pflanzenteilen enthaltenen Wirkstoffen, den verwendeten Pflanzenteilen und der beabsichtigten Darreichungsform. Es werden Tees als Abkochung oder Aufgüsse, frische Pflanzensäfte, wässrige oder alkoholische Auszüge und ätherische Öle zubereitet.

Heute werden Heilpflanzen werden von fast allen medizinischen Systemen angewandt. Ihre Anwendung unterscheidet sich nach Art der Diagnosefindung, Klassifizierung und Dosierung in dem jeweils angewandten Medizinmodell.

Die Annahme, dass Heilpflanzen weniger Neben-Wirkungen aufwiesen, und damit weniger gefährlich seien als chemische Präparate, ist falsch. Die Übergänge von heilsamer zur giftigen bis tödlichen Wirkung sind auch bei Pflanzenprodukten fließend und vor allem eine Frage der Dosis.

Heilpflanzen können auf einem Fleckchen Erde u. a. von Kleinst- und Kleinbäuerinnen, von Hausfrauen und Müttern angepflanzt und nicht nur als Fertigpräparate in der Apotheke gekauft werden. Als selbst angebaute Pflanzen sind sie leicht herstellbar, billig, vielen zugänglich. In einigen Ländern werden Heilpflanzen auch in großen landwirtschaftlichen Betrieben zum Handel oder zum Export angebaut (cash crop), wie die riesigen Nelkenplantagen auf Sansibar oder Pyrethrum-Farmen in Kenia.

Untersuchungen auf Rückstände von Schadstoffen findet bei „natürlichen Heilmitteln“ oft nicht statt. Sie werden aber manchmal in bleihaltigen Kesseln zusammengerührt oder in Lagern mit Insekten-Vernichtungsmitteln bedampft. Dann bergen sie mehr toxische Risiken, als sie bei scheinbar natürlichen ‚alternativen‘ Anwendungen als Nutzen bringen könnten.

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Literatur

Letzte Aktualisierung: 31.08.2024