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1. November 2023

Kinder in Balance

Es war etwa ein Jahr vor den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001. Die damalige Oppositionspartei versuchte die Senats-Bürokratie zu stören, und stellte eine kluge Frage.

Ob es richtig sei, dass

Cabrol C & Raymond P: La Douce (Sanfte Bewegung für Kinder): Helft Ihnen aus der Langeweile, Ottawa 1987 – Bild: Scheinbar „haben“ diese Kinder alles: aber es fehlt ihnen an Beziehung.
  • die Hamburger Kinder immer dicker würden,
  • sich wirklich immer weniger bewegten,
  • es sich dabei um ein Problem handele,
  • und wenn ja, was der Hamburger Senat dagegen unternehme.

Ich war dort vorübergehend der zuständiger Referent und antwortete etwa so

  • „Ja, es sei richtig, dass die Kinder und Jugendlichen in Hamburg dicker und bewegungfauler würden,
  • Ja, dabei handele sich um ein ernstes Problem, das sich langfristig gesellschaftlich auswirken würde. Denn es beeinflusse die Verhaltens- und Intelligenzentwicklung und damit die spätere Erwachsenengesundheit.
  • Und ja: angesichts dieser Gefahren müsse man (eigentlich) unbedingt etwas tun.“

Mein Vermerk kam umgehend von der Behördenspitze zurück, mit einer bleistift-geschriebenen (ausradierbaren) Randnotiz: „Lieber Herr Jäger, bitte keine Frontalvorlage für die Opposition!“

Offensichtlich war ich unfähig für die Politik. Also musste eine Kollegin den Job übernehmen. Ihre Antwort klang dann etwa so:

Buch: Zimmermann D., Heinrich N.: Kinder in Balance, tqj-verlag.de 2016 – Video: youtu.be/indw0FkRu6I, Englisch amazon.com/gp/aw/d/B0CKGL7G6N
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  • „Die Daten der Gesundheits-Berichterstattung sind leider nicht eindeutig. Wir benötigen dringend weitere Studien.
  • Deshalb haben wir die Erstellung eines Gutachtens angeregt. Es wurde sogar schon eine Arbeitsgruppe eingerichtet.
  • Die Behörde wird unverzüglich, konsequent und punktgenau handeln. Aber in Ruhe, nach sorgfältiger Auswertung der wissenschaftlichen Ergebnisse. Und zu gegebener Zeit.
  • Aber schon bereits jetzt handeln wir: Für die Grundschule A wurden zwei Gymnastik-Bälle gekauft, die Kindertagesstätte B erhielt ein Klettergerüst und ….“

Die Behörde war zufrieden, die Presse auch. Und die Kindern hatten keine Lobby.

Bewegungskompetenz lässt nach. Die Intelligenz auch?

Immer mehr Kinder haben Schwierigkeiten, sich mit verbundenen Augen im Raum zu orientieren, zu hüpfen oder rückwärts zu gehen. Im Rahmen der Lockdown-Maßnahmen und Digitalisierung nehmen diese Negativ-Trends deutlich zu. (Mehr)

Cabrol C & Raymond P: La Douce (Sanfte Bewegung für Kinder): Helft Ihnen aus der Langeweile, Ottawa 1987- Bild: Die Vorstellung, wie etwas sein könnte, löst Sensationen und geht der Bewegung voraus. Die Bewegung liefert die nötige Rückinformation, die die Vorstellungskraft beeinflusst. Hirn und Bewegungsfunktion sind eins.

Wir das Bewegungs-System vernachlässig, leidet das Gehirn. Besonders bei Kinder, bei denen sich dieses Zentralorgan erst noch ausformen muss.

Die Hauptaufgabe des Gehirns besteht darin, durch Bewegung mit der Umwelt in Beziehung zu treten. Das Gehirn ist ein Kommunikationsorgan. Es tritt durch den bewegten Körper in Beziehung zu seinem Umfeld: Durch Rhythmus, Haltung, Gestik, Mimik, Berührungen, die Stimmgebung des Kehlkopfs u.v.a..

Bei der Wechselwirkung mit dem Geflimmer eines Bildschirms spielt diese natürlich-menschliche Kommunikation eine vergleichsweise geringe Rolle. Besonders dann, wenn Kinder in der Schule zusätzlich gezwungen werden, Masken zu tragen und dadurch mimische Signale weniger verstehen können.

Kinder trainieren ihr Gehirn durch das Erlernen von Bewegungsabläufen: Die Verarbeitung unmittelbarer Sinneseindrücke allein reichte für zielgenaue Ausführungen von Bewegungen nicht aus. Sie wäre viel zu langsam und zu unpräzise. Im Gehirn werden stattdessen einfließende Informationen mit Erfahrungs-Wissen und verinnerlichtem Können abgeglichen. Das erfordert sehr viel und regelmäßiges Ausprobieren und (oft frustrierendes) Üben.

Cabrol C & Raymond P: La Douce (Sanfte Bewegung für Kinder): Helft Ihnen aus der Langeweile, Ottawa 1987 – Bild: Bewegung macht Spaß, weil es Wirkkräfte verbindet.

Begreifen

Erst das begreifende Verstehen. Dann keimt eine Vorstellung auf, wie etwas sein, und wie man es beeinflussen könnte. Erst dann findet ein Körper (nach einigem Ausprobieren und Scheitern) zu wirksamer, effektiver und eleganter Dynamik. (Wolpert 2011, Sagedi 2018)

Hände formen, wirken und kommunizieren. Sie können sich mit dem Gegenstand, den sie berühren, verbinden und ihn so gewandt handhaben. Manchmal entstehen fließende Bewegungen des ganzen Körpers. dann werden Kräfte weit über die Körpergrenzen hinaus wirksam. Geleitet über Hüfte, Rumpf, Schultern und erst dann die Hände .

Der Funktionsumfang der Hände ist eine grundlegende Besonderheit des Menschen: Die Fähigkeit der Hände zur Berührung ergibt sich erst aus der menschlichen-stabilen Hüftkonstruktion, die unsere Schultern von tragenden Aufgaben befreit.

Wahrnehmung und Steuerung der Hand nimmt so viel Platz ein, wie das Gesicht. Viele glauben deshalb, dass es die Gesten der Hand waren, die die Grundlage der Sprachentwicklung bildeten. Lange bevor die motorischen Programme der Kehlkopf-Steuerung, die ersten gesprochenen  Worte und Sätze bildeten. (Wilson 2001)

Viel mehr als Erwachsene müssen Kinder mit allen Sinnen lernen. Sie können (ein Ding oder eine abstrakte Aufgabe) nicht verstehen, wenn sie nicht den Zusammenhang spielerisch ausprobieren, bewegen und begreifen dürfen.

Gewandtheit, sich in einem Prozess mit Gegenständen oder Lebewesen zu verbinden, Im Verlauf der Evolution steht am Anfang der menschlichen Evolution. Möglicherweise war es z.B. die Fähigkeit des Kochens, die zu intensiver sozialer Kooperation führte. (Young 2013)

Experiment mit Kindern

Unsere Gesellschaft gestaltete von 2020-2022 ein Experiment, was passieren mag, wenn sich 100% der Kinder eine Zeit lang (viel) zu wenig bewegen. Zur Intensivierung dieses Gesellschafts-Tests wurde bei Grundschul-Kindern ein zusätzliches Bewegungs- und Atmungshemmnis verordnet, und das Training der Handmotorik (durch Bildschirmarbeit) ausgebremst. Nicht nur Bewegungsvielfalt und Bewegungskompetenz verarmten. Sondern in der Folge auch die Fähigkeiten zu Kreativität, Innovation und sozialer Kompetenz. (Reichelt 2021, Singha 2020)

So sägt eine Gesellschaft an dem Ast, auf dem sie sitzt.

Davon brauchen wir mehr: SIMBAV e.V. – Video

Welche Möglichkeiten bieten sich uns?

Ich weiß es nicht. Viele gute Strategien und Angebote um Kindergesundheit zu fördern, wurden durch die Zwangs-Maßnahmen zerstört. Gesundheit wurde reduziert auf Nutzung medizinischer Produkte. Kinder konnten und können können sich nicht wehren. Und die wenigen Ärzt:innen, Psycholog:innen, Hebammen, die versuchen sie zu schützen waren und sind schwach.

Wir müssen neu von vorn anfangen. Für eine kinderfreundliche Gesellschaft streiten.

Mehr

Literatur

  • de Klerk C et al: The role of sensorimotor experience in the development of mimicry in infancy. Dev Sci, 2018, Nov 10:e12771 www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30415485
  • Krupp Stiftung 29.10.2020: 4. Kinder- und Jugendrepot, www.krupp-stiftung.de/vierterkinderundjugendsportbericht/?preview=true
  • Manley H et al (2014) When Money Is Not Enough: Awareness, Success, and Variability in Motor Learning. PLoS ONE 9(1): e86580
  • Reichelt J et al: Kinder in der COVID-Krise: Familiär verinselt im Lockdown Dtsch Arztebl 2021; 118(8): A-404 / B-345
  • Roach NT: The Evolution of High-Speed Throwing – Elastic energy storage in the shoulder and the evolution of high-speed throwing in Homo. Nature 2013. 498. 483-486.
  • Sagedi M: Adaptive sensorimotor learning, PLOS one, 29.11.2018
  • Singha S etal: Impact of COVID-19 and lockdown on mental health of children and adolescents: A narrative review with recommendations, Psychiatrie Research August 2020
  • Wolpert D et al.: Principles of sensorimotor learning, Nature Reviews neuroscience 2011, 740-751
  • Wilson F: Die Hand Geniestreich der Evolution. Ihr Enfluss auf Gehirn, Sprache und Kzltur des Menschen. Klett-Cotta 2001
  • Young R.W.: Young RW Human origin and evolution. CreateSpace Independent Publishing Platform, 2013, Hum Ontogenet 3(1), 2009, 19–31 ; Evolution of the human hand: the role of throwing and clubbing, Anat. 2003, 202:165–174.Young 2009: The ontogeny of throwing and striking. In: Hum Ontogen 3 (1): 19–31.

 

Letzte Aktualisierung: 13.07.2024